Dr. Kurt Matzler ist ultraradelnder Professor für strategisches Management an der Universität Innsbruck. Laut Brightline Initiative zählt er zu den besten strategischen Denkern weltweit. Am 10. Juni startete er das zweite Mal als Solofahrer beim härtesten Radrennen der Welt, dem Race Across America. Die Eckdaten in diesem Jahr: Distanz 4.932 Kilometer, über 40.000 Höhenmeter, 2 Wüsten, 3 Gebirgszüge, 4 Zeitzonen. Höchster Punkt: Wolf Creek Pass auf 3.300 Meter, Höchsttemperatur 46 Grad, tiefste Temperatur 4 Grad. Bis zu 15.000 Kalorienverbrauch, bis zu 20 Liter Flüssigkeitszufuhr pro Tag. Seit der Erstauflage 1982 gab es insgesamt mehr als 700 Starter. Es kamen 388 ins Ziel, 116 davon waren mehr als einmal mit dabei. Eine fast unglaubliche Leistung, die FREIZEIT-TIROL im Gespräch mit Kurt Matzler näher beleuchten möchte!
Kurt, herzliche Gratulation, wieder einmal! Was hat dich motiviert, nach 2022 in diesem Jahr erneut beim Race Across America als Solo-Starter teilzunehmen?
Eigentlich war das nicht geplant. Ich war 2023 von Turin zum Nordkap gefahren, das sogenannte „Nordkap 4000“, da bist du ohne Betreuer komplett auf dich alleine gestellt. 2024 folgte das „Race Around Poland“. Ich habe somit immer weiter trainiert. Parallel dazu brachte ich 2023 mein Buch mit dem Titel „Das High Performance Mindset“ heraus. Dadurch wurde ich zu einer Menge Vorträge eingeladen. Der CEO des Baukonzerns Habau hat mich nach der Veranstaltung bei ihnen angerufen und mir mitgeteilt, wenn ich nochmals fahren würde, sei er als Sponsor dabei. Selbiges erlebte ich beim Vortrag bei der Firma BMR, einer oberösterreichischen Stahlkonstruktionsfirma. Hier gab es dasselbe Angebot. Somit hatte ich – ganz ungeplant – plötzlich Sponsoren. Meine Crew war davon ebenso begeistert wie ich, somit war klar: Wir machen es nochmal! Wir hatten das große Privileg, den Riesenaufwand von rund 65.000 Euro finanziert zu bekommen und konnten es abermals als Spendenprojekt der Rotarier zur Ausrottung der Kinderlähmung („End Polio“) aufziehen.
Hast du deine Strategie von 2022, dein gesamtes Team und dich in Hotels unterzubringen, erneut angewendet?
Ja, doch für heuer war das Ziel das RAAM in 10 statt in 11 Tagen zu fahren. 2022 waren wir sehr konservativ gefahren, mittlerweile hatte ich, wie schon erwähnt, ja die letzten Jahre nochmals besser trainiert und andere Sachen optimiert.
Das klingt ja vielversprechend, doch dann gab es Probleme…
Das stimmt, die Probleme begannen bereits vor dem Rennen. Ich war vorher 10 Tage in der Wüste, um mich gegen die Hitze zu akklimatisieren. Nach drei Tagen bekam ich Halsschmerzen, vermutlich wegen der trockenen Luft. Ich kam einmal in einen Sandsturm, was auch nicht optimal ist. Zum Glück blieb ich fieberfrei, machte somit ein paar Tage Trainingspause und das Halsweh war weg. Leider war es ab dem zweiten Renntag wieder da, ich bin dann 10 Tage mit Halsschmerzen gefahren, hatte teilweise die Stimme komplett verloren. Meine Stimme ist immer noch nicht ganz da, die Stimmbänder sind immer noch ein wenig beleidigt! Das zweite gesundheitliche Problem ereilte mich in den Rocky Mountains: Ich hatte Wassereinlagerungen und innerhalb eines Tages drei Kilo zugenommen! Auf den letzten Pass hinauf hatte ich ein leichtes Lungenödem und stellte bei der Auffahrt fest, dass ich viel weniger Luft bekam. Der Arzt teilte mir mit, dass es noch nicht bedenklich sei, zumal ich ohnehin nur noch rund 100 Höhenmeter zu bewältigen hatte. Dann folgte eine lange Abfahrt von 2.000 Höhenmetern, somit sollte sich das Lungenödem damit von alleine lösen, was dann zum Glück eintrat. Von da an lief das Rennen super, wir waren viel schneller als geplant, jeden Tag ein bis zwei Stunden vor unserem Zeitplan. Diese gewonnene Zeit investierten wir in Schlafpausen, trotzdem war ich immer unter den Top 4 im Rennen. Dann hatte die Schweizerin Isa Pulver in den Rockies einen schweren Sturz mit Schlüsselbeinbruch, somit war ich bis zur Hälfte des Rennens an dritter Stelle! An diesem Halfway-Point, nach 2.500 Kilometern, traten plötzlich Nackenprobleme auf und ich konnte den Kopf nicht mehr richtig halten. Ich legte sofort eine lange Schlafpause, fünf Stunden, ein. Das machte ich insgesamt drei Mal, damit sich der Nacken regenerieren konnte. Die angestrebte Erholung erfolgte nicht wirklich, doch ich konnte irgendwie fahren, mit vielen Massagen und kurzen Pausen. Während des Fahrens versuchte ich das Kinn abzustützen, was mein Kinn aufrieb. Auch bekam ich Krämpfe im Nacken und nahm Schmerzmittel. Ich musste rund 2.500 Kilometer am Oberlenker fahren, bekam Blasen an den Handballen, die Finger sind mir komplett eingeschlafen. So habe ich mich dann irgendwie ins Ziel gerettet! Es starteten 25 Teilnehmer, davon 2 Damen. 13 kamen insgesamt ins Ziel, ich benötigte 11 Tage, 11 Stunden und 5 Minuten. Das bedeutete, trotz aller Probleme, den 7. Platz insgesamt und den 3. Platz in meiner Alterskategorie.
Wie gehst du mit all diesen Problemen um, wie motivierst du dich, nicht aufzugeben?
Es müssen viele Sachen zusammenspielen, dass so etwas geht! Das Erste ist, du brauchst auf die „Warum-Frage“, also auf „warum tust du das?“, eine klare Antwort. Wenn dir diese Antwort fehlt, ist der Schritt zur Aufgabe ein kleiner. In unserem Fall war das Spendenprojekt die Antwort, quasi der „höhere Zweck“. Ich bin das Rennen nicht für mich alleine gefahren, sondern für dieses Projekt. Dieser „höhere Zweck“ gibt dir die Motivation, an die eigenen Grenzen zu gehen. Das eigene Ego ist der limitierende Faktor, wenn du es nur dafür machst, ist die Entscheidung aufzugeben, relativ leicht. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl sagte einmal: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie!“. Ein zweiter, wichtiger Aspekt ist, dass du dir viele, kleine Ziele setzt. So nahm ich mir mit meinen Problemen vor, bis zur nächsten Time-Station zu kommen, dann sehen wir weiter. Und dann wieder dasselbe. Irgendwann bist du so weit, dass du dir denkst „wir schaffen es jetzt noch ins Ziel“. Das heißt, du musst das Große herunterbrechen in kleinere Ziele. Das hatte ich 2022 schon mit meiner „Hotelstrategie“ gemacht: Als ich am Start war, hatte ich nicht die 5.000 Kilometer vor mir, sondern das nächste Hotel! Das sind dann realistische Tagesetappen von rund 600 Kilometern, die du dir zu fahren vorstellen kannst. Und somit von einem Hotel in das nächste und so weiter. Ich habe das dann auf 8 bis 9 Stunden heruntergebrochen, da zu dieser Zeit immer mein Begleitfahrzeug wechselte und ich 15 Minuten Pause hatte. Das zerlegte ich anschließend wieder in 4 Stunden-Einheiten, da ich alle 4 Stunden für 5 Minuten vom Rad steigen konnte. Diese teilte ich wieder in Stunden Einheiten auf, da ich alle Stunden eine Flasche Flüssignahrung bekam. So brichst du alles auf kleine Ziele herunter und hast permanent das Gefühl, weiter zu kommen.
Der dritte Faktor, der eine ganz große Rolle spielt, ist „Optimismus und Hoffnung“. Jeden Tag hatte ich die Hoffnung, dass es mir nach der nächsten Schlafpause besser gehen würde. Das half mir unglaublich! Hätte mir jemand gesagt „diesen Zustand musst du jetzt noch 2.500 Kilometer bis zum Ziel aushalten“, ich weiß nicht, ob ich es geschafft hätte! Eine extrem wichtige Rolle spielte meine Begleitmannschaft, es waren 9 Leute, die irgendwann die Aufgabe hatten, die Motivation zu übernehmen. Ich war selber so erschöpft, dass ich die Leute um mich herum brauchte, um mich aufzurichten, wenn es schwierig war. Parallel dazu machten sie auch die Berichterstattung auf Facebook und lasen mir gelegentlich Nachrichten daraus vor. Das Einzige, was ich sonst von den sozialen Medien mitbekam, war der „Sitzfleisch-Podcast“ von Christoph Strasser (Anmerkung: österreichischer Extremsportler, der zwischen 2011 und 2019 sechsmal das Race Across America gewann), der jeden Tag um 5 Uhr für eine Stunde kam. Das brachte eine Routine, eine Struktur und Sicherheit. Er produzierte das von Österreich aus für das gesamte Rennen, wobei hauptsächlich über den späteren Sieger Philip Kaider, Lukas Kaufmann, der auf den 2. Platz kam, und mich berichtet wurde.
Du hast 2023, wie eingangs kurz angesprochen, ein zum Thema passendes Buch mit dem Titel „Das High Performance Mindset" herausgebracht, in das viel aus deinen Rennradabenteuern einfloss. Ist das Buch noch erhältlich?
Ja klar, im Buchhandel oder auf Amazon.
Wie wurde es angenommen?
Ausgezeichnet! So wurde die englische Version vom Wirtschaftsmagazin Forbes zu einem der 10 besten Managementbücher des Jahres gewählt. Das deshalb, da es ein ganz besonders Buch ist, das die Verbindung zwischen Extremsport und Leadership-Management herstellt. Und weil die Inhalte kurzweilig über Storytelling erzählt werden. Das macht es viel zugänglicher für die Leser als trockene Managementliteratur. In meiner Lehrveranstaltung „Strategieimplementierung“ ist das Buch ein Teil davon. Ich bekomme von den Studenten unglaublich viel positives Feedback, es kommt super an. Ich erfahre, dass das Buch eine bleibende Wirkung hinterlässt. Die Botschaft lautet: „If you can dream it, you can do it!“. Das heißt, wir können die schwierigsten Aufgaben meistern, wenn wir wissen, wie wir sie angehen sollen.
Für den durchschnittlich Radsportinteressierten ist die Tour de France ein Begriff und jährliches Highlight. Heuer wurden von den Radprofis von 5. bis 27. Juli insgesamt 3.302 Kilometer und 51.500 Höhenmeter abgespult. Ist das auf den ersten Blick vergleichbar mit dem RAAM?
Nun, ich verfolge die Tour nicht wirklich. Ich habe den 5. Gesamtplatz des Österreichers Felix Gall mitbekommen, super! Aber ansonsten finde ich es, obwohl es auch Radfahren ist, nicht mit dem RAAM vergleichbar. Während die Radprofis in allen Etappen eine enorme Endgeschwindigkeit brauchen, egal ob am Berg, im Sprint oder beim Zeitfahren, geht es beim RAAM um die Ausdauer. Das setzt ein ganz anderes Training voraus. Das zweite ist der mentale Aspekt: Körperlich bist du irgendwann am Ende, dann entscheidet nur mehr der Kopf. Wenn du die Tour fährst, bist du immer im Team, im Fahrerfeld, hast deine Helfer. Beim RAAM musst du jeden Meter alleine fahren, ohne Windschattenfahren, das ist verboten. Dazu kommen weitere Faktoren, die es so schwierig machen, wie Schlafentzug, Hitze, du fährst durch Städte auf Autobahnen mit viel Verkehr. Somit sind die beiden Rennen nicht vergleichbar!
Wie ist das Zuschauerinteresse beim RAAM, was nimmst du als Fahrer wahr?
Wenig. Ich erinnere mich an ein paar Situationen, wo Leute auf der Strecke waren. Das ist dann aber etwas ganz Besonderes! Mitten in Kansas, nach Mitternacht, standen zwei Zuschauer mit einem Schild. Oder einer, der um 5 Uhr in der Früh im Regen wartete und mich anfeuerte. Diese Momente, ich denke, es war so 6–7-mal, geben dir mehr, wie wenn Tausende anonyme Besucher neben dir stehen.
Nun sind deine Projekte ja immer mit einem Charityprojekt zur Ausrottung der Kinderlähmung verbunden. Was konnte heuer erradelt werden?
Dieses Jahr sind es 277.000 Dollar. Insgesamt, seit wir das machen, sind es 4,6 Millionen Dollar. Ich bin ja im Viererteam das RAAM 4-mal gefahren, als Solostarter jetzt das zweite Mal. In dieser Summe ist die Verdreifachung der Spenden durch die Bill und Melinda Gates Foundation (jeder gespendete Betrag wird im Verhältnis 2:1 bezuschusst) aber schon eingerechnet!
Denkst du an eine weitere Soloteilnahme am Race Across America?
Nein. Aus mehreren Gründen: Es ist ein enormer finanzieller und organisatorischer Aufwand. Und wie ich heuer festgestellt habe, kommst du, was das Gesundheitliche betrifft, auch an deine Grenzen. Es passieren Sachen, wie das Lungenödem, die nicht so „ohne“ sind. Ich habe rund 6 Wochen nach Beendigung immer noch taube Finger, die linke Hand ist kaum einsetzbar. Alle meine gesundheitlichen Probleme in diesem Jahr werden sich lösen, aber es ist grenzwertig!
Aber die Radpension steht nicht unmittelbar bevor?
Nein, das eine oder andere „Ultra-Abenteuer“ kommt sicher. Was mich reizt, sind 24-Stunden-Rennen oder nochmals das Nordkap 4000. Da bist du komplett auf dich alleine gestellt, musst alles selber organisieren, das hat mehr Abenteuercharakter! Gestartet wird das Rennen in Norditalien, das Ziel ist immer das Nordkap. Die Strecke ist rund 4.500 Kilometer lang und verläuft jedes Jahr etwas anders. Mittlerweile sind rund 500 Teilnehmer am Start. Die Bandbreite ist extrem: Es gibt Fahrer, die das Rennen sehr sportlich und schnell angehen. Andere nehmen sich bewusst Zeit und genießen es. Es gilt eine Mindestzeit von 12 Tagen, das bedeutet, du kannst das Rennen fahren, ohne dass du Nächte durchfahren musst. Das wäre, da du ja komplett alleine unterwegs bist, ja auch sehr gefährlich…! Die Teilnehmer schlafen hier überall, egal ob im Schlafsack unter der Brücke oder als wilde Camper oder in Hotels. Als ich 2023 fuhr, waren von 14 Tagen 12 Tage Regen – da bist du dann schon froh, wenn du im Hotel übernachten kannst! Wobei ich festgestellt habe, dass du beim Dauerregen eine stoische Gelassenheit entwickelst: Du nimmst es, wie es kommt. Wenn du so alleine unterwegs bist, hat das einen Vorteil: Es ist keiner da, bei dem du dich beschweren oder bei dem du schimpfen kannst. Dann wirst du total gelassen. Denn es hört dir ohnehin niemand zu, da brauchst du dann auch nicht zu schimpfen!
Text: Bernhard Schösser
Fotos: © Matzler