Ehrensache Lebenretten! Walter Spitzenstätter erzählt über die Geschichte der Bergrettung Tirol

Interview mit Walter Spitzenstätter über die Geschichte der Bergrettung Tirol

Walter Spitzenstätter hat in seiner alpinen Laufbahn viele schwierige Kletterfahrten in den Ost- und Westalpen unternommen. Im Winter war es das Skibergsteigen, im Sommer das Klettern, das ihn faszinierte. In seinen 28 Tourenbüchern stehen rund 7.200 Gipfel, davon 2.785 Tiroler Gipfel, die auf einer überdimensionalen Landkarte Tirols im Arbeitszimmer Spitzenstätters penibel mit Stecknadeln gekennzeichnet sind. Zusätzlich runden an die 1.000 schwere Klettertouren und ungefähr 15 herausfordernde Erstbegehungen sein alpinistisches Schaffen ab. Parallel dazu war "Spitz", wie er in der Szene genannt wird, immer auch als Bergretter tätig. 2013 wünschte sich die Bergrettung eine Chronik ihres Schaffens. In mühevoller Arbeit hat Spitzenstätter fünf Jahre recherchiert und über 800 Seiten zusammengestellt, die nun nach insgesamt 6,5 Jahren auf 415 Seiten im Buch "Ehrensache Leben retten" erschienen sind. FREIZEIT-TIROL traf Walter Spitzenstätter, um einen Einblick in diese eindrucksvolle Geschichte zu bekommen.

Wie ist die Bergrettung entstanden?

1885 hat der österreichische Alpenverein, der damals für die Bergführer zuständig war, die "Hilfsverpflichtung für Bergführer im Alpenraum" durchgesetzt. Es war ein wichtiger und richtiger Schritt, um den Menschen, die in den Bergen verunfallten, Hilfe zukommen zu lassen. 1896 wurde in Wien die erste "Alpine Rettungsgesellschaft" gegründet. 1898 folgten Gesellschaften in Innsbruck und München. Das waren damals kleine Vereine, die für eine umfassende Bergrettung ungeeignet waren, da sie ja nur stark eingeschränkt örtlich helfen konnten. 1903 hat der Alpenverein das erkannt, es wurden diese Vereine aufgelöst und mit starker finanzieller Unterstützung als eigene Abteilung innerhalb des Alpenvereins etabliert. Der Alpenvereins-Bergrettungsdienst war geboren. Hier taucht auch das Wort "Bergrettungsdienst" erstmals auf. Es wurden in Folge Orts- und Meldestellen gegründet und die entsprechenden Gerätschaften angekauft, Sachen, die nur ein großer Verein finanziell stemmen konnte.

Mit Beginn des 2. Weltkrieges wurden alle Vereine aufgelöst und ins Deutsche Reich integriert. Viele technologische Entwicklungen stammen vom Militär: Man hatte erkannt, dass im 1. Weltkrieg an der Dolomitenfront mehr Leute durch Steinschlag oder Lawinen ums Leben gekommen waren als durch feindlichen Beschuss. So wurde 1940 in der Heeresgebirgssanitätsschule in St. Johann in Tirol eine eigene Entwicklungsabteilung gegründet. In Folge hat man dort bis 1945 u.a. die wichtigen Grundgeräte: Stahlseilgerät, Gebirgstrage und Akja entwickelt. Eng damit verbunden ist hierbei der HTL-Lehrer Wastl Mariner, der diese Geräte dann weltweit vertrieben hat.

Du unterteilst die Geschichte der Bergrettung ja in vier Epochen?

Richtig. Die erste Epoche ist der Beginn und Aufbau, wie schon erwähnt, bis 1938. Es folgt die Epoche der "neuzeitlichen Bergrettungstechnik" bis ca. 1969/70. Die dritte Epoche beginnt mit dem Eintritt der ersten starken Hubschrauber, die in der Lage waren, außerhalb des Bodeneffektes zu schweben. Es ist die Zeit der leistungsfähigen Flugrettung. Die erste Generation an Hubschraubern musste zur Aufnahme von Patienten immer landen, sie waren also nicht viel besser als die Flächenflugzeuge, mit denen wir damals viel geflogen sind. Nun war es aber möglich, verunfallte Leute direkt aus der Wand zu bergen. Viele Bergretter befürchteten, dass fortan diese Hubschrauber ihre Aufgaben übernehmen könnten, ihre Arbeit somit hinfällig werden würde. Das ist insofern richtig, dass wir eine ständige Weiterentwicklung der Flugrettungstechnik beobachten können und heute teilweise Sachen gemacht werden, die bis vor Kurzem als unvorstellbar galten. Was die beste Technik jedoch nicht kann, ist die Rettung bei Nacht oder Schlechtwetter. Hier ist man nach wie vor auf die terrestrische Bergrettung angewiesen. Genau in dieser schwierigen Übergangszeit wurde ich als Landesleiter für die BR Tirol geholt. Technisch waren wir damals somit sehr gut aufgestellt, jedoch war immer noch die Kommunikation das schwächste Glied in der Rettungs-Kette. Früher musste man sich z.B. bei einem Kletterunfall die gesamte Wand abseilen, ins Tal absteigen und sich dann zu Fuß auf die Suche nach einem Telefon machen, um die Meldung eines Unfalles bekannt machen zu können. Dadurch vergingen wertvolle Stunden. Mit der modernen Kommunikation ist es heute, abgesehen von ein paar kleinen Funklöchern, von überall her möglich, einen Notruf abzusetzen. Für mich beginnt somit die vierte Epoche 2005, als das Land Tirol die Leitstelle aufgebaut und in Betrieb genommen hat. Hier werden, abgesehen von der Polizei, sämtliche Notrufe von Feuerwehr und Rettung (auch Berg- und Wasserrettung) entgegengenommen und entsprechend koordiniert. Auch die Hubschrauber werden von hier aus zugeteilt. Bevor diese übergeordnete Zentralstelle in Betrieb genommen wurde, gab es immer wieder ungute Situationen, wenn Hubschrauberfirmen sich vehement darum bemühten, möglichst viele Rettungsflüge "zu ergattern".

Wie bist du zur Bergrettung gekommen?

Ich habe so um 1956 begonnen, mit meinem Kollegen Robert Troier zu klettern. Wir sahen von Anfang an viele Unfälle, und so war für uns klar, dass wir uns auch innerhalb der Bergrettung engagieren wollten. Zu dieser Zeit gab es noch keine Gebietsgrenzen für die Ortsstellen. Wer damals die Nummer einer ihm bekannten Bergrettungs-Ortsstelle anrief, konnte damit rechnen, dass ihm geholfen wurde, egal wo der Unfall passiert war. Damals hatte nicht einmal jeder ein Telefon, man trommelte irgendwie seine erreichbaren Freunde zusammen und die Rettungsaktion wurde gestartet. Wir sind damals weite Strecken gefahren wie zum Goldkappl, zum Olperer oder zur Laliderer Nordwand. Früher musste man einen Verunfallten, der im oberen Teil der Laliderer Nordwand nicht mehr weiter kam, mittels Aufwinde auf den Gipfel hochziehen und dann hinten hinunterbringen. Jetzt, mit 900 Meter langen Seilen, können wir aus jeder Stelle der Wand Verletzte bergen und bis zum Wandfuß abseilen, von wo sie mit Hubschrauber oder Rettungswagen weitergebracht werden.

Eine der spektakulärsten Rettungsaktionen, die von Tirol aus organisiert wurden, führte uns 1970 zum Mount Kenya bis auf 5100m, von wo wir Gert Judmaier nach sieben Tagen noch lebend vom Berg herunter und nach Hause bringen konnten.

Mit dem schon erwähnten Beginn der Flugrettung wollte Wastl Mariner die Leitung der Bergrettung in jüngere Hände legen und dazu wurde ich auserkoren. Es war eine höchst emotionale Zeit. Dr. Gerhard Flora, damals Chef der Chirurgie und BR-Ortsstellenleiter in Innsbruck, baute die erste bergrettungsärztliche Flugrettungsbereitschaft auf. Dadurch war es für uns möglich, ständig einen Arzt mitzunehmen. Durch die Tatsache, dass sämtliche Flugrettungsressourcen (Leitung, Ärzte, Hubschrauber) in Innsbruck konzentriert waren - mit Ausnahme der Hubschrauber des Bundesheeres in Schwaz - ergab sich ständig Konfliktpotenzial. Es entstand eine gewisse Konkurrenzsituation, quasi Land Tirol gegen Stadt Innsbruck. Mein besonderes Bemühen als Landesleiter konzentrierte sich deshalb speziell darauf, die Teilnahme am Flugrettungswesen für ganz Tirol zu ermöglichen. In der Landesleitung führte ich die Bezirksvertreter ein, um die Organisation des Bergrettungswesens in Tirol auf eine breitere Basis zu stellen. Auf Grund der unüberwindlich scheinenden Auffassungsunterschiede über die Zukunft der Flugrettung trat ich dann gemeinsam mit Wastl Mariner 1975 zurück, um eine komplett neue Mannschaft an die Führung zu lassen. Unsere Hoffnung war, dass sich damit die Stimmung verbessern würde, was sich aber nicht erfüllte. Erst 2005, mit Einführung der Leitstelle, kam gesetzliche Klärung und auch Ruhe ins Flugrettungswesen.

Bergretter sind ja ehrenamtlich tätig, was hast du hauptberuflich gemacht?

Ich war 46 Jahre lang als Optikermeister bei Miller Optik tätig und habe 1990 mit meinen Söhnen eine Firma für Medientechnik gegründet, mit der ich auch heute noch stark beschäftigt bin.

Was sind, abgesehen vom Einsatz für Gert Judmaier, deine "Highlights" als Bergretter?

Gerne erinnere ich mich zurück an mehrere Einsätze in der Laliderer Nordwand, an denen ich teilnehmen durfte. 1979 hatten wir dort den größten Wandbergeeinsatz, der in Österreich je stattfand. Es waren im 73 Stunden andauernden Einsatz 200 Leute von 14 Ortsstellen beteiligt, die Kosten betrugen rund 500.000 Schilling, damals eine Riesensumme. Wir wollten zwei Kletterer aus Bayern bergen, die bei einem Wettersturz im Juni in der Wand feststeckten. Damals mussten jeweils ca. 25 Mann zweimal ein 800 Meter Stahlseil bei widrigsten Bedingungen und extremer Lawinengefahr über das Roßloch auf den Gipfel hochtragen. Es waren insgesamt fünf Abseilfahrten in die Wand erforderlich, bis es gelungen war, die beiden Kletterer zu bergen. Beim ersten Versuch fuhr der Retter zu weit links hinunter. Da es schneite und neblig war, konnten wir ja auch nichts hören, denn der Nebel dämpft die Geräusche und schluckt dein eigenes Schreien. Auch das zweite Seil wurde zu weit links hinuntergelassen. Der dritte Versuch, mit dem 800 Meter Stahlseil, scheiterte. Das Seil verfing sich und wir konnten es nicht mehr hochziehen. Beim vierten Versuch, bei dem ich abgeseilt wurde, waren wir dann zu weit rechts, so 40 bis 50 Meter. Doch ich konnte die Leute sehen, und so passte dann der fünfte und letzte Versuch endlich. Erstmals fuhren vier Personen gleichzeitig an einem Stahlseil ab, die beiden Bayern kamen mit leichten Erfrierungen davon. Insgesamt wurden für diesen extremen Einsatz alle drei damals vorrätigen 800 Meter Stahlseile benötigt, zwei davon wurden verbraucht, da sie nicht mehr hochgezogen werden konnten.

In Erinnerung ist mir auch ein Einsatz im Rätikon, am Großen Drusenturm: Wir wollten den Südpfeiler besteigen und waren schon beim Einstieg, als wir einen nicht näher definierbaren "Rumpler" hörten. Wir wussten nicht, was das war und beschlossen, da es uns keine Ruhe ließ, in die Südwand hinein zu queren, um nachzusehen. Schon bald erblickten wir zwei regungslose Körper auf einem schmalen Schotterband liegend. Einer der beiden Kletterer war beim Sterben, den anderen, der auf seinen Freund gestürzt war, konnten wir grundversorgen und anschließend zum Wandfuß abseilen. Damals, in den 1960er Jahren, gab es in der Schweiz bereits Hubschrauber, die jedoch noch landen mussten. Der Verletzte wurde nach Chur ins Krankenhaus geflogen und die Ärzte bestätigten uns später, dass er, hätte die Rettung nur 30 Minuten länger gedauert, auch gestorben wäre. So konnten wir diesem Mann weitere 35 Jahre seines Lebens dazu schenken!

Wie viele Einsätze als Bergretter hast du gemacht?

Das weiß ich nicht im Detail, aber es waren hunderte.

Wie beurteilst du die aktuelle Entwicklung in den Bergen?

Durch die neuen, modernen Sportarten und durch die Zunahme des Alpinismus, aber auch des Tourismus generell, steigt auch die Anzahl der Einsätze. Waren es früher in Innsbruck 30 Einsätze pro Jahr, so haben wir jetzt rund 130. Früher mussten wir Leute mit schlechter Ausrüstung, ich sage nur "Halbschuhtouristen", retten, heute sind fast alle top ausgerüstet in den Bergen unterwegs. Die unbestrittenen Vorteile des Handys bringen aber auch Nachteile mit sich: Wir werden jetzt sofort angerufen, wenn jemand nur "einen verstauchten Zehennagel" hat. Daraus erklärt sich auch ein Teil der Zunahme unserer Einsätze. Jedoch gehören natürlich auch geringe Verletzungen zu unserem Job dazu.

Man liest immer wieder auch von Kritik an den Bergrettern, vor allem von unseren deutschen Nachbarn?

Ja, dazu fällt mir der deutsche Rechtsanwalt ein, dem es bei seiner Rettung im Außerfern zu lange gedauert hat. Und die acht Retter waren ihm zu viele, seiner Meinung nach hätten vier auch gereicht. Solche Kommentare sind komplett überflüssig und disqualifizieren sich ja von selbst. 99,9 Prozent der Geretteten sind absolut dankbar und heilfroh, dass die Bergretter gekommen sind.

Text: Bernhard Schösser
Fotos: Archiv Spitzenstätter